Der Ausbruch

Der Ausbruch – Eine Weihnachtsgeschichte von Ida Stierhof

Es war mal wieder ein normaler Tag im Gefängnis und Jorge war sehr gelangweilt.

Wie jeden Tag sollte er in einem nahegelegenen Ort des Gefängnisses Holzfiguren schnitzen, selbst die Tatsache, dass Dezember und somit bald Weihnachten war, änderte dies nicht.

Pünktlich um fünf Uhr hörten alle Insassen schlagartig auf zu arbeiten und stellten sich in einer Reihe auf. Der Wärter kontrollierte sie und fand wie gewöhnlich nichts.

Es musste zwar nicht heißen, dass niemand etwas mitgehen ließ, doch nach fünf Stunden des Aufpassens wurde auch ein Überwachungsfachangestellter müde.

Nachdem die zwanzig Mann ins Gefängnis zurückgekehrt waren, zeigte Freddy uns seine neueste Errungenschaft: einen Schraubendreher. Er hatte ihn in seiner Schuhsohle versteckt, welche er für solche Zwecke gespalten hatte.

Freddy war handwerklich sehr begabt und hatte bereits seinen Fernseher präpariert, welcher nun die verrücktesten Sender empfing. Für zwanzig Euro die Stunde schmuggelte er andere Knastis in seine Zelle, um fernzusehen.

Und einbrechen konnte er gut. Nur das mit der Sturmmaske hatte nicht funktioniert.

Jorge saß, weil er mit einem Freund einen Banküberfall geplant hatte, jedoch den Plan per Telefon in einer U-Bahn besprochen hatte. Selbstverständlich gab es eine große Menge an Zeugen.

Gerade wollte er sich in eine ruhige Ecke verziehen, als der Chef des Gefängnisses den Speisesaal betrat. Sie alle nannten ihn Scharfrichter, da er sie nach ihrem Aussehen beurteilte.

Er ließ die Insassen durch sein lautes Organ wissen, dass sie gefälligst ruhig sein sollten. Als dies geschehen war, wartete er einen Moment und begann dann seine Rede: „Weil die Gefängnisse überfüllt sind, hat sich die Exekutive dieses Jahr etwas Besonderes überlegt: aus jedem Gefängnis des Landes soll ein Kleinkrimineller per Losung zu Weihnachten entlassen werden.“

Selbstverständlich ging ein Raunen durch die Menge. Die Mörder beklagten sich, dass nicht sie entlassen wurden und die Taschendiebe tuschelten bereits.

Nur Jorge war sich nicht sicher, ob die Sache tatsächlich ernst gemeint war. Dem Scharfrichter war nicht zu trauen, doch würde er sich den Zorn des kompletten Gefängnisses auf sich ziehen, indem er ihnen versprach, freizukommen? Nein, das würde selbst er nicht wagen, außerdem hatte er keinen Humor.

Er machte sie noch mit einigen organisatorischen Fakten vertraut, dann zog er sich in sein Appartement hinter den Einzelhaftzellen zurück.

Also gab es wirklich die Chance, diesen grauen Kasten zu verlassen. Doch wie sollte Jorge sicherstellen, dass sein Name gezogen wurde? Betrügen, natürlich, aber wie?

Sein Zellengenosse, Adrian, welcher als Anwalt seine Klienten erpresst hatte, stand in gutem Kontakt mit einer Gruppe von Taschendieben, welche nicht nur Dinge hinaus, sondern auch hineinschmuggeln konnten. „Wenn Du ihnen das richtige Geld gibst, werfen sie bestimmt ein paar mehr Zettel mit deinem Namen hinein.“

Dann würde Jorge sein gespartes Geld wohl bald los sein.

Am nächsten Morgen nahm Jorge wie gewöhnlich seinen frühstücksartigen Brei zu sich, und wurde daraufhin in den Laden geschafft, wo er sich wie gewöhnlich seiner Arbeit widmete. Er sah sich unauffällig um. Irgendwo in seiner Truppe war bestimmt einer der Taschendiebe. Aber da war keiner.

Mist! Ausgerechnet seine Gruppe bestand nur aus Betrügern. Wieso war er ihnen eigentlich zugeordnet worden? Schließlich war er ein Bankräuber.

Ach ja, die Sache mit seiner Freundin, die aus Angst nicht gegen die Mörderin ihrer Mutter aussagen wollte, und er deswegen behauptet hatte, es gesehen zu haben.

Das war natürlich etwas anderes.

Nun musste Jorge den ganzen Tag warten, bis er wieder im Gefängnis selbst war, und mit den Taschendieben verhandeln konnte.

Für gewöhnlich fand Jorge das Schnitzen recht passabel, doch an diesem Tag konnte er sich nicht darauf konzentrieren. Nicht nur, dass ihm fünf Stunden wie eine Ewigkeit vorkamen, sondern er vermasselte ein Pferdchen nach dem anderen.

Ungefähr zur Halbzeit sprach ihn der Wachmann darauf an: „Wenn du zu gestresst bist, wird das Nichts. Nimm dir lieber heute frei, bevor du unnötig Material verschwendest und Ärger bekommst.“

Ja, Jorge könnte sich freinehmen. Er könnte zurück ins Gefängnis, und mit den Taschendieben reden.

Somit wurde Jorge von einem weiteren Wachmann zurückbegleitet.

Doch er hatte nicht bedacht, dass die Taschendiebe selbst bei der Arbeit waren. Nun saß Jorge unnütz im Aufenthaltsraum und beobachtete einen Raubmörder, wie er Billardkugeln zum Golfen verwendete. Mit dem Billardschläger.

Endlich nach drei weiteren Stunden, in welchen er fragwürdigen Golfunterricht erhalten hatte, kamen die Taschendiebe zurück. Jorge setzte sich während des Abendessens zu ihnen, was diese gar nicht wunderte. Dutzende Insassen hatten sie bereits um Hilfe gebeten.

„Das geht klar. Wenn du drei zusätzliche Zettel willst, brauchen wir 1000 Euro, bei fünf 1500, bei zehn 5000“, erklärte ihm ein schmächtiger Mann, welcher nie in den Stimmbruch gekommen zu sein schien.

„Was? Wie rechnet sich denn das?“ „Gar nicht. Aber wenn du natürlich hier bleiben willst…“ „Nein. Ich gebe euch das Geld morgen, okay?“, flüsterte Jorge der Gruppe zu und entfernte sich von ihnen.

Er konnte es nicht fassen. Das war Wucher! Und er hatte gerade mal 127€ gespart. Alles andere war für Telefongespräche mit seiner Freundin draufgegangen.

Woher sollte er das Geld bekommen? Auf keinen Fall von seinem Zellengenossen, denn dieser wusste, wie man Leute erpresste. Er hatte derart viele Klienten erpresst, dass er, um seine Strafe abzusitzen, ans andere Ende des Landes hatte gebracht werden hatte müssen, um seinen Opfern nicht im Gefängnis zu begegnen.

Doch wenn Jorge ihm nach seiner eigenen Entlassung seinen Fernseher überlassen würde, dann müsste er sich bestechen lassen.

„Du gehst das Risiko ein? Wenn du das unbedingt willst, na gut. Ich hab 871€. Vielleicht schaffe sich noch zwei Euro ran, dann kannst du dir drei Zettel leisten.“ „Woher weist du denn, wieviel die kosten?“, fragte Jorge verwundert.

Adrian grinste: „Erstens habe ich meine Ohren überall und zweitens habe mir selbst eine Versicherung besorgt.

„Und woher hast du so viel Geld?“

Adrian grinste. Jorge kannte dieses Grinsen. Adrian hatte selbstverständlich mehrere Insassen erpresst. Das hätte sich Jorge auch selbst denken können.

Am nächsten Tag musste Jorge erneut zur Arbeit. Auch wenn er darauf brannte, das Geld bei den Taschendieben abzugeben, konnte er sich wesentlich besser konzentrieren als gestern.

Am Abend setzte er sich zu den Taschendieben. „Oh, tut mir leid, aber die Aktion ist schon gelaufen“, meinte einer von ihnen tonlos. „Was, wie habt ihr das denn gemacht? Wir sind doch erst vor einer Stunde zurückgekommen.“ „Ich habe mich heute krankgemeldet, und hab mich dann rausgeschlichen.“

Jorge konnte es nicht fassen. So eine Frechheit ihn einfach im Stich zu lassen! Doch was konnte man im Knast schon erwarten, wo jeder darauf bedacht war, jedem zusätzlichen Übel zu entgehen.

Jorge gab noch nicht auf. Während der alljährlichen Christbaumschmückung stahl er sich davon, um den Raum zu suchen, in welchem die Zettelbox aufbewahrt wurde.

Aber er konnte sie nicht finden. In den zweieinhalb Jahren, die er hier verbracht hatte, war er noch nie in den Westflügel gegangen.

Was eigentlich ein gutes Zeichen war, denn nur Insassen, die etwas ausgefressen hatten, wurden dorthin beordert.

Nun stand Jorge vor einer Tür, auf welcher `Chef´ stand. Natürlich war sie abgeschlossen. Doch Jorge wäre nicht Jorge, wenn er nicht immer ein Ass im Ärmel hatte.

Jorge hielt sich nämlich für besonders schlau. Er dachte, dass nur Idioten sich erwischen ließen.

Jorge saß im Knast.

Die Feder von seinem Bettgestell war wie fürs Einbrechen gemacht, komisch dass die Wärter nicht selbst darauf gekommen waren. Jorge überraschte es nicht, denn er hielt auch sie für blöd.

Nach nur drei Minuten war die Tür offen und Jorge spazierte hinein. Der große Strumpf an der Wand musste wohl die Zettel enthalten. Wie kitschig!

Jorge ging drauf zu und wollte gerade seine Zettel aus der Tasche holen – als er bemerkte, dass er diese nicht mitgebracht hatte.

Jorge war sehr schlau.

Was sollte er denn jetzt tun? Zurückgehen und sie holen und riskieren, dass jemand bemerkte, dass die Tür des Scharfrichters offenstand? Nein.

Da kam er endlich auf eine Idee. Anstatt seinen eigenen Namen zehnmal hineinzulegen, könnte er zehn andere Namen herausnehmen. Er griff beherzt hinein und zog seinen Zellengenossen. Wenn der nicht gezogen wurde, machte das gar nichts. Denn er konnte seinen Beruf ohnehin nicht mehr ausüben und würde auf der Straße landen. Also tat ihm Jorge einen Gefallen, wenn er ihn im Knast behielt.

Als Nächstes zog er Freddy. Und noch einmal Freddy. Dann einen Taschendieb und noch einmal Freddy.

Er leerte den kompletten Strumpf aus, und nahm alle zwanzig Zettel mit Freddys Namen heraus. Er warf sie in den angezündeten Kamin, schloss die Tür hinter sich, und lief zurück in die Speisehalle.

Er kam sich besonders toll vor.

Es war der 24. Dezember und somit der Tag der Verlosung. Alle Insassen saßen in der Speisehalle und warteten darauf, dass der Scharfrichter ihren Namen ziehen würde.

Nach einer halben Stunde kam ein dicker Weihnachtsmann herein, welchen sie noch nie zuvor gesehen hatten. Wurde extra jemand dafür engagiert, dass er sich für ausgewachsene Männer verkleidete? Ein Raunen ging durch die Menge, und Jorge verstand zum größten Teil `Was soll denn der Quatsch?´.

Der Weihnachtsmann hielt eine Rede über Vergebung, welcher niemand zuhörte, da ihnen ohnehin nie jemand vergeben würde, und ging danach endlich zum Strumpf.

Alle hielten den Atem an. Der Weihnachtsmann machte ein `ho ho ho´ und griff hinein.

„Ranny Daniels.“ Ein kleiner, schmächtiger Junge jubelte und rannte nach vorne. Dort wurde er beglückwünscht und anschließend hinausgebracht.

Jorge war wütend. Nicht auf Ranny, in seinem tiefsten Inneren freute er sich sogar für den Kleinen, der hier nie Freunde gefunden hatte. Er war wütend, dass er seine Chance, in die Freiheit entlassen zu werden, verspielt hatte.

Hätte er sich doch nur mehr Mühe gegeben!

Doch nun war es zu spät. Der Weihnachtsmann würde so schnell er nur konnte wieder von hier verschwinden, und – Der Weihnachtsmann! Natürlich, das war Jorges letzte Chance.

Er stahl sich davon und lief in den Westflügel. Er fand die Kabine des Weihnachtsmanns sofort und lugte durch den Türspalt. Da stand ein Mann, der sich leise fluchend ein paar Wattestücke vom Kinn zupfte. Ansonsten sah er ganz normal aus.

Als er im Bad verschwand, zog sich Jorge das Kostüm selbst an und rannte wieder hinaus. Er rannte zum Eingang des Gefängnisses, an welchem zwei Wachposten postiert waren. „Ho ho ho!“, rief er zur Begrüßung, und wie er es geplant hatte, öffneten die Wärter die Tür für ihn.

Er winkte ihnen zum Abschied zu, rannte hinaus, und immer weiter, bis er nicht mehr konnte.

Er war frei, endlich frei! Wie lange wusste er nicht, denn wenn erst einmal der echte Weihnachtsmann ging, würden die Wachen kapieren, dass jemand geflohen war.

Doch das war Jorge im Moment egal. Bis sie ihn wieder schnappen würden, konnte er so viele Dinge tun. Er konnte einen Weihnachtsmarkt besuchen oder seine Freundin. Oder mit seiner Freundin auf den Weihnachtsmarkt.

Ja, das sollte er tun.