Wie klingt die Stimme deiner Großmutter?

Großmutter Beth sitzt wie immer am Ende des langen Esstischs und starrt wie gebannt ins Leere. Sie würdigt den Suppenlöffel, den sie ruhig zum Mund führt, keines Blickes. Die gesamte Familie Williamson unterhält sich angerregt über die Ereignisse des vergangenen Tages. Der große Tisch wird gefüllt von Beths beiden Töchtern mit deren Partnern und Beths fünf Enkelkindern. Beth Williamson sitzt am Ende des Tisches. Sie bekommt nicht mit, wie ihre Enkelin Marie nach dem Salz fragt, das direkt neben ihrem Teller steht. Sie starrt auf den verstaubten Wandteppich gegenüber von ihrem alten, verschnörkelten Stuhl. Marie hat nur einen Tag erlebt, an dem ihre Großmutter nicht um 12:00 Uhr am Tischende Platz genommen hat. Maries Mutter hatte neue Stühle für den Esstisch besorgt, da das Wackeln und Quietschen der Alten kaum noch auszuhalten war. Beth betrat wie immer am Mittag das große Esszimmer. Doch es war, als hing die Schleife in der ihr Leben sie Tag für Tag gefangen hält. Sie steckte neben dem neuen Stuhl fest. Noch heute glaubt Marie, an diesem Tag tiefe Verzweiflung in Beths Augen gesichtet zu haben. Zwei Stunden später hatte die Familie endlich den Stuhl vom Sperrmüll wieder besorgt. Der eingespielte Ablauf des Lebens von Beth Williamson konnte also weitergehen. Manchmal versucht Marie in Beths leuchtend blauen Augen wieder den Funken eines Gefühls zu finden, aber ihre Großmutter wirkt wie gefangen in einer Blase aus undurchsichtigem Nebel.
Sie steht aus dem Doppelbett auf, in dem sie schon seit 24 Jahren allein schläft. Sie knotet ihre inzwischen weißen Haare im Nacken zusammen. Sie steckt sich mit der uralten Haarklammer die kurzen Strähnen an der Seite ihres Kopfes fest. Sie kocht Tee. Sie sitzt auf der Bank vor unserem Haus. Sie grüßt keinen der netten Passanten zurück. Sie geht zum Bäcker. Sie trifft dort ihre Schulfreundin Kathrin. Sie umarmt ihre Schulfreundin Kathrin ohne den Ansatz eines Lächelns zu zeigen. Sie sitzt mit Kathrin auf der immer selben Coach und trinkt Kaffee. Sie spricht kein Wort mit Kathrin. Sie geht nach Hause. Sie gießt die blauen Tulpen an unseren Fenstern. Sie sitzt um 12.00 Uhr am Esstisch.
Für Marie war es immer ganz normal, die Stimme, das Lächeln ihrer Großmutter nicht zu kennen. Sie sitzt Beth gegenüber. Immer starrt ihre Großmutter an ihr vorbei auf den Wandteppich. Marie denkt oft darüber nach, aber niemand sonst scheint sich für den Grund der ewigen Schleife zu interessieren. Jeden Abend sitzt Beth auf dem Sofa und stickt. Seit zwei Monaten setzt Marie sich immer dazu. Über den Rand ihres Buches beobachtet sie Beth. Wie eine Maschine stickt Beth die immer gleichen Muster.
Nicht nur Beth ist in der Schleife gefangen. Die gesamte Generation, die mit Beth in der Stadt aufgewachsen ist, steckt fest. Kathrin und all die andern Großeltern in einem ewigen Kreis. Marie kannte es nicht anders, aber seit dem Ereignis mit Beths Stuhl versucht sie mehr darüber herauszufinden. Erst dachte sie, niemand will ihr etwas darüber sagen, doch inzwischen ist ihr klar geworden, dass niemand etwas darüber weiß. Wie auch, wenn die Einzigen, die antworten könnten, in der Frage gefangen sind.
Marie zieht durch die Straßen und Häuser um mehr über den Tag herauszufinden, an dem eine ganze Generation ihrer Stadt hängengeblieben ist. Es gibt verschiedene Indizien. So gießt ihre Großmutter zwar auch die erfrorenen Tulpen im Winter, doch am ersten Tag der Schleife haben die Tulpen Maries Meinung nach geblüht. Marie versucht die Puzzleteile der Routinen zusammenzufügen. Alles passt zusammen und greift perfekt ineinander. Die Gefangenen treffen sich zu den passenden Zeiten und begrüßen sich mit Handschlägen oder Umarmungen, aber nicht mal bei der täglichen Interaktion mit Leidensgenossen zeigen sie eine Emotion.
Das ist wahrscheinlich Maries größte Frage: Leiden sie?
Leidet Großmutter Beth? Erlebt sie die Schleife überhaupt? Könnte sie etwas dagegen tun? Ist überhaupt noch eine Prise Leben in Beths lebloser Hülle vorhanden?
Der Mond scheint bereits in Maries Zimmer, als sie das bekannte Knarzen des Fußbodens im Flur hört. Beth ist also schon auf dem Weg ins Wohnzimmer. Marie schnappt sich ihr Buch mit der Hoffnung, heute etwas mehr über ihre Großmutter herauszufinden. Aber auf dem Sofa sitzt nicht wie immer die weggetretenen Beth und stickt. Nein, heute sitzt dort eine zitternde Beth, die anstelle des Stickrings einen Block und statt der Nadel einen Füller hält. Die faltigen Finger klammern sich um den Stift und versuchen angestrengt nicht die Stickbewegung zu machen. Marie tritt näher. Sie kann nicht wirklich glauben, was passiert, und weiß nicht, ob sie ihrer Großmutter helfen soll. Marie stellt sich hinter Beth und legt zur Unterstützung bestimmt ihre Hand auf Beths Schulter. Beth beginnt zu schreiben. Die schnörklige, zitternde Schrift macht es Marie anfangs schwer den Text zu entziffern. Umso tiefer sie in die Worte ihrer Großmutter eintaucht, umso leichter fällt es ihr das Geschriebene zu lesen, umso genauer sieht sie die Ereignisse vor sich, umso schneller geht ihr Atem, umso schwerer liegt ihre Hand auf Beths Schulter. Beths Augen flackern. Sie starrt durch das Papier hindurch. In Maries Kopf spielt weiter der Film, der Tag für Tag in Beths Kopf seine Runden dreht. Heißes Blut tropft auf das hellblaue Kleid. Aus Beths Ohren und Nase rennt der Lebenssaft. Rote Tropfen auf Maries Hand, doch sie liest und liest. Das naive, unschuldige Flackern verlässt immer weiter ihre Augen. Ihre Hand verkrampft sich. Auf dem aufgeregt beschriebenen Papier mischen sich Tränen und Blut. Beth schaut zu Marie. Zum ersten Mal wird Marie tatsächlich von ihrer Großmutter angeschaut. Sie kann sich nicht darüber freuen. Der Knoten, der die Schleife jedes Tages zusammen hielt, hatte jegliche Freude in Marie ausgelöscht. Beths Blick war schon lange tot, doch etwas in Marie war gerade mitgestorben.
Beth reißt das vergilbte Papier vom Block und wirft es in den Kamin. Sie öffnet eine Schublade und Tauscht das Schreib- durch Stickzeug, setzt sich aufs Sofa und alles ist wie die Abende zuvor, nur dass Marie jetzt auch schweigt.
Von Margarete Schaffer