Grüne Augen

Sophie hatte es satt, immerzu ignoriert zu werden. Eigentlich war ihr Vater ein liebevoller Mensch, doch wenn er in seiner Arbeit aufging, vergaß er die Welt um sich herum völlig.

Prinzipiell war das nichts Schlechtes, nur konnte Sophie nicht verstehen, wie er Gefallen daran finden konnte, die ganze Stadt mit hässlichen Betonklötzen zuzupflastern.

Sophies Vater war Architekt und alleinerziehend, weswegen Sophie ihn auf die Baustelle begleiten musste. Sie war erst zwölf und angeblich zu unvernünftig, um allein zu Hause zu bleiben.

Ist es etwa vernünftig, alles Grüne aus der Stadt zu verbannen? fragte sich Sophie im Stillen.

Es hätte ohnehin nichts gebracht, laut zu sprechen, da die Baggergeräusche alles übertönten.

Sie sah zu ihrem Vater. Er sprach gerade mit dem Bauherrn, dem das komplette Gewerbegebiet gehörte. Er hatte in den vergangenen Jahren hunderte dieser grauen Klötze errichten lassen, die unnötig teuer waren, dafür dass sie hässlich, kalt und umweltschädigend waren.

Sophies Vater behauptete, dass für jeden Quadratmeter, den sie hier in der Stadt bebauten, irgendwo im Urwald ein Baum gepflanzt wurde. Doch was brachte das hier, wenn woanders ein Baum gepflanzt wurde? Das Grün aus der Stadt war dennoch verschwunden.

Sophies Vater sah auf die Uhr. „Ich denke, wir sollten jetzt die Mittagspause beginnen!“, schrie er über den Maschinenlärm seinem Auftraggeber zu. Dieser schrie etwas zurück und winkte dann zu den Baggern hinüber. Kurz darauf beendeten alle ihre Arbeit für diesen Vormittag.

Sophie sprang von dem kleinen Container, auf dem sie die ganze Zeit über gesessen hatte, und hüpfte zu ihrem Vater hinüber. Sie wirbelte dabei eine Menge Staub auf, doch so bemerkte er sie wenigstens.

„Hey, hey, kleines Fräulein, staub‘ mich nicht ein!“, lachte er, wobei er gar nicht von seinen Bauplänen aufsah. „Hier machen wir noch einen Pfosten hin, und hier…“ „Papa…“ „Ja, mein Schatz?“ „Ich hab‘ Hunger.“ „Deine Lunchbox liegt beim Pförtnerhaus“, murmelte er.

„Ich will aber nicht schon wieder nur ein Käsebrot!“, beschwerte sich Sophie. Seit zwei Wochen hatte es kein anderes Mittagessen für sie gegeben und sie war es schon längst leid.

„Heute Abend gehen wir zum Italiener.“ „Versprichst du es?“ „H-hm.“ „Sieh mich an, damit ich sehen kann, ob du lügst“, raunte Sophie bitter.

Ihr Vater lachte, sah jedoch dennoch endlich von seinen Papieren auf und seiner Tochter ins Gesicht. Er wirkte für einen kurzen Moment geschockt und wich mit dem Kopf ein wenig zurück.

Sophie wurde wütend. „Hast du etwa vergessen, wie ich aussehe, oder warum bist du so geschockt!“ „Natürlich weiß ich noch, wie du aussiehst, mein Schatz. Ich war nur von deinen grünen Augen so fasziniert.“ „Wieso, was ist mit denen?“, fragte Sophie verwundert. „Sie sind grün.“

Ach ne!“ Sophie verschränkte die Arme. Ihr Vater lachte erneut. „Ich habe so lange nichts Grünes mehr gesehen und habe mich über die Farbe gefreut.“ „Selber schuld, wenn du alle Pflanzen in der Stadt herausreißen lässt. Kein Wunder, dass nichts Grünes mehr da ist.“

Sophies Vater schob seinen Mund hin und her. Dann biss er sich auf die Lippe und blickte nachdenklich auf seinen Bauplan.

„Weißt du was? Ich überlege schon seit Wochen, was wir in den Innenhof der Bürogebäude stellen sollen. Wie wäre es, wenn wir einen Garten hineinsetzen? Und auch um die Parkplätze herum, damit man von außen auch etwas Grün hat.“

Sophie war begeistert. „Oh ja, das wäre toll!“, sie wurde jedoch nachdenklich, „aber du weißt doch gar nicht, wie man einen Garten anlegt.“ „Aber du umso mehr. Möchtest du mir helfen?“ Sophie nickte heftig.