Das Hedonistsiche Kalkül

Heiligt der Zweck die Mittel? Darf man einen Menschen foltern, um andere zu retten?
Im Wahlfach Philosophie beschäftigten wir uns letztes Jahr mit den philosophischen Lösungsansätzen von Dilemmata. Denn eine Entscheidung in Ausnahmesituationen ist meist sehr schwer zu treffen und Krisen kompliziert zu lösen. Eine Argumentationslinie, den Utilitarismus, besprach unser Kurs detailliert. Um sich eine Vorstellung der Begründungweise dieser Methode machen zu können, wird im folgendem Beispiel alles genauer erklärt.
Am Beispiel der Entführung von Jacob von Metzler (2002)
Es sind beinahe schon 20 Jahre seit der Entführung von Jacob von Metzler vergangen, jedoch handelt es sich dabei noch immer um einen berüchtigten Fall der Kriminalgeschichte. Im Herbst 2002 wurde der elfjährige Jacob nach der Schule von Markus Gäfgen verschleppt und umgebracht. Der anschließende Erpresserbrief erweckte den Eindruck, als würde der kleine Junge noch am Leben sein. So bezahlten die Eltern unter Anweisung der Polizei das Lösegeld, sodass nach der Geldübergabe der Täter verhaftet werden konnte. Nach tagelangen Verhören, in denen Gäfgen schwieg und ihnen nicht weiterhalf, wurden die Kriminalbeamten unruhig. Sollten sie Jacob nicht früh genug finden, so könnte er sterben. Mit dem Gedanken, den Jungen zu retten, drohte der leitende Ermittler dem Täter Schmerzen zuzufügen, insofern Gäfgen nicht die Wahrheit sagen und den Beamten den Aufenthaltsort des Kindes nennen würde. Durch die Angst vor der bevorstehenden Folter verriet der Tatverdächtige alle wichtigen Informationen.
Zunächst wird der Utilitarismus nach Jeremy Bentham genauer erklärt, welcher die Grundlage für das hedonistische Kalkül bildet, das im weiteren Verlauf von Bedeutung sein wird. Befindet man sich nämlich in der Lage, eine moralische Entscheidung zu treffen, soll diejenige Handlung folgen, die das größtmögliche Glück für den Großteil der Personen mit sich bringt und das Leid geringhält. Diese Bestimmungen basieren auf dem Prinzip der Nützlichkeit, sodass Leid vermindert und Freude vergrößert werden soll. Das hedonistische Kalkül bezeichnet dabei die Berechnung und somit die Anwendung dieses Prinzips.
Mithilfe dieser Methode wird nun anhand des Beispiels herausgearbeitet, inwiefern es vertretbar ist, einen Menschen zu foltern um andere zu retten. Die Ausmaße dieser Gefühlszustände werden anhand sieben Kriterien nähergehend betrachtet.
Die Erleichterung und Freude, die aufkommt, sobald die Polizisten den Aufenthaltsort von Jacob von Metzler erfuhren, war enorm groß, das Leid direkt danach war verhältnismäßig gering, da man in diesem Moment ein Menschenleben retten wollte. Dieser euphorisierte Zustand war zunächst nur von kurzer Dauer, da die Rettung des Jungen über die eigentliche Dauer des Glückes und der Schmerzen entscheidet, da man sich seinem körperlichen Wohlbefinden nicht bewusst sein konnte. Man war sich außerdem gewiss, dass die einzige Möglichkeit Freude zu erlangen, das schnelle Finden des Kindes war. So schien es in diesem Moment vertretbar, dass Gäfgen Leid empfindet, um die Chance zu vergrößern, Jacob lebendig aufzufinden. Die Wahrscheinlichkeit, dass nach der Androhung von Schmerzen, Leid oder Freude eintrat, war dementsprechend gleich hoch. Nach dem Geständnis mussten die Beamten den Aufenthaltsort des Jungen nur noch aufsuchen, sodass der Zeitpunkt, der über Freude oder Leid entscheidet, nicht mehr weit entfernt war. Die Folgen dieser moralisch verwerflichen Entscheidung waren sehr schwerwiegend. Es wird auf die Familie viel Leid zukommen, da die Presse die Entführung ihres Sohnes und die Verletzung der Menschenrechte von Gäfgen ausführlich thematisiert, wodurch eine ständige Konfrontation für die Betroffenen mit diesem schwierigen Thema herbeigeführt wird. Auf den Ermittler, der sich durch die Drohung strafbar gemacht hat, wird wiederum weiteres Leid in Form von rechtlichen, aber auch psychischen Konsequenzen folgen, da er ebenso kurz davorstand, einem Menschen Schaden zuzufügen. Es ist auch möglich, die Handlung unter dem Aspekt der Reinheit der Empfindung zu analysieren, wobei man feststellt, dass aus dem Leid herbeigeführt von der Folter des Entführers zunächst die Freude der Ermittler über den Erfolg hervorgeht und es wiederum in Leid oder Glück endet. Somit ist diese Bedingung nicht gegeben. Von der Entscheidung, dass der Versuch unternommen wird Jacob zu befreien, sind nicht nur die Ermittler und der Entführer maßgeblich beteiligt, sondern auch die Eltern, welche diese durchlebte Tortur in einen psychisch labilen Zustand bringt.
Zusammenfassend muss gesagt werden, dass sich in diesem Fall die Androhung der Folter allgemein mehr Freude verursacht hat. Im Verständnis des Utilitarismus verspürt hier die Mehrheit der Betroffenen, darunter die Polizei und die Familie des Jungen, mehr Freude als Leid. So ist auch die Folter eines Menschens ein Lösungsansatz für ein akutes Problem, welches andere Individuen bedroht.
Im Hinblick auf den Ausgang des Falles, wobei Jacob nur noch tot aufgefunden werden konnte, kann man diese menschenrechtverletzende Handlung kritischer betrachten, dennoch waren die folgenden Ereignisse in dieser Krisensituation schwer abzusehen und die einzige Chance war, sich an die Hoffnung zu klammern, den Jungen früh genug zu finden.
Kann man also insgesamt sagen „Der Zweck heiligt die Mittel“? Im Sinne des Prinzips der Nützlichkeit trifft dieses Sprichwort eindeutig zu, denn hier zählt dieses Menschenleben mehr als ein kurzes Schmerzbefinden einer anderen Person. Der Utilitarismus vernachlässigt jedoch viele bestimmende, vorrangig ethische, Faktoren, denn die Moral verlangt ein Handeln zugunsten aller Menschen, nicht nur der Mehrheit. Man kann nicht die Bedürfnisse von Menschen gegeneinander aufwiegen, dieser Leitfaden steht auch im deutschen Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Aus diesem Grund sollte man niemals bedeutende Entscheidungen allein auf Grundlage des hedonistischen Kalküls fällen.