Altersempfehlung: 14 Jahre
Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich meine Umwelt zu erkennen. Meine Augen müssen sich erst an die Helligkeit gewöhnen. Der Sauerstoff steigt mir in den Kopf und ich versuche nicht umzukippen, als ich grob aus dem engen Kofferraum gezerrt werde. Ich versuche zu laufen, auch wenn das durch meine eingeschlafenen Gliedmaßen und das verminderte Sehvermögen kaum möglich ist. Der ungeduldigen Kralle an meinen gefesselten Handgelenken geht es aber offensichtlich nicht schnell genug, denn sie zerrt mich weiter. Meine Beine kommen sich in die Quere und bringen mich mitten auf dem steinigen Waldweg zu Fall. Weil der Vermummte mich weiterzieht, graben sich die spitzen Steinchen immer tiefer unter meine Haut. Das vorherige Kribbeln meiner aufwachenden Gliedmaßen wird nun vom brennenden Schmerz der Wunden übertönt.
Als heute Morgen ein Auto neben meinem Schulweg hielt, machte ich mir erst keine Gedanken und wollte einfach daran vorbeigehen, da ich ohnehin zu spät zum Unterricht kommen würde, weil ich vorher noch die Mathehausaufgaben von meiner besten Freundin abschreiben musste. Gestern hatte ich die Hausaufgaben nicht mehr geschafft. Ich war schwer damit beschäftigt, das perfekte Selfie für meinen Instagram-Account zu schießen, um es noch am selben Abend zu posten, da mir seit neustem der süße Typ aus der Parallelklasse folgte und ich hoffte ihn so auf mich aufmerksam machen zu können. Keines der Bilder stellte mich zufrieden. Also griff ich schnell, wie viele meiner gleichaltrigen Freunde, zu den Snapchat-Filtern, die jedes Gesicht in ein makelloses Model verwandeln können. So war ich schon bald mit dem weichgezeichneten Gesicht, den prallen Lippen und großen Augen zufrieden, die mir aus dem Smartphone entgegenblickten. Schnell war das Bild gepostet und weil ich den restlichen Abend mit meiner Schwester und ihrem Mann verbringen wollte, kamen die Hausaufgaben mal wieder zu kurz. Ich wusste ja, dass ich erst zur 3. Stunde Unterricht hatte und vorher noch die Aufgaben von meiner Freundin in mein Heft kopieren könnte. Trotzdem war ich jetzt zu spät dran um meinen Plan noch pünktlich vor Unterrichtsbeginn umsetzten zu können.
All diese Gedanken sind aber egal, als der Autofahrer mich knebelt, fesselt und mir einen Sack über den Kopf stülpt um mich in den Kofferraum zu stopfen. Mit dem dreckigen Tuch im Mund ist es mir kaum möglich zu schreien. Ich versuche es trotzdem, doch mir bleibt schnell die Luft weg. Auch meine Arme kann ich nicht bewegen ohne mir selbst die Handgelenke abzuschnüren. Ich versuche es also mit meinem letzten Ausweg und trete um mich, doch schieße mir damit im wahrsten Sinne selbst ins Bein. Ich hatte den Betonklotz am Straßenrand vergessen, auf dem sich häufig Passanten für eine kleine Pause niederlassen. Mein Fuß schmettert gegen den harten Stein und ich bin mir sicher, dass mein Knöchel gebrochen sein muss. Langsam laufen mir Tränen über das schmerzverzerrte Gesicht und nässen das Tuch, das immer noch in meinem Mund steckt. Der Schmerz meines Knöchels bekommt keine Chance nachzulassen, da der Entführer mich in den Kofferraum verfrachtet und dabei meinen Fuß sogar noch weiter umbiegt.
Nach der ewigen Autofahrt, die Stunden, wenn nicht Tage, gedauert haben muss, habe ich wirklich keine Kraft mehr mich zu wehren, während der Verhüllte mich einige Stufen hochschleift. Der Schmerz ist nicht mehr, wie am Anfang der Autofahrt, klar in meinem Knöchel zu verorten, sondern hat sich wie eine Lähmung über meine gesamte Existenz gelegt. Erst als die schwere Tür des Kellers zuknallt und ich höre wie sich ein Schlüssel im Schloss dreht, kann ich anfangen meine Atmung erneut zu kontrollieren und einen klaren Gedanken zu fassen. Ich rolle mich auf den Rücken, weg vom kalten Treppenabsatz, den ich eben noch heruntergerollt bin. Allein von dieser Aktion muss mein Körper mit Blutergüssen übersät sein. Dem Entführer liegt wohl nicht sehr viel an mir, wenn er mich einfach die Treppe, die direkt nach der Eisentür folgt, herunterstößt. Ich suche den Raum, soweit ich kann, mit den Augen ab. Doch außer einiger Spinnweben, Schimmel in einer Ecke und kleine Kritzeleien an der Steinwand kann ich im flackernden Licht der summenden Glühbirne, die an ihrem eigenen Kabel von der Decke hängt, nichts entdecken.
Wie viel Zeit wohl seit dem Übergriff am Straßenrand vergangen ist? Bestimmt wird schon nach mir gesucht. Bald wird jemand kommen, der mich rettet.
Ich werde das überleben. Ich werde das überleben. Ich werde das überleben!
Staub rieselt von oben herab, während schwere Schritte nervös über die Decke des Kellerraums stapfen. Ich wälze mich unter tiefen Schmerzen über den sandigen Boden an eine der Wände und schaffe es nach langer Anstrengung mich aufzusetzen. Als ich realisiere, was passiert ist und dass ich rein gar nichts dagegen tun kann, verschnellert sich meine Atmung wieder und ich spüre keinen Sauerstoff mehr, der meine Lungen füllt. Ich sehe schwarze Punkte und versuche vergeblich meine Atmung zu beruhigen.
Ich spüre einen warmen Luftzug auf meiner Wange und öffne erschrocken die Augen. Das unmaskierte Gesicht des Entführers direkt vor meinen Augen! Mir ist sofort klar, was das bedeutet, und ihm wohl auch, da er vor Schock erstarrt ist. Falls ich jemals wieder freikomme, kenne ich sein Gesicht. Deshalb wird er alles tun, mein Freikommen zu verhindern. Selbst wenn im Hintergrund eine Gelddrohung oder Ähnliches am Laufen war, ist dieser Plan jetzt definitiv geplatzt. Mit immer noch aufgerissenen Augen spricht der Entführer zum ersten Mal zu mir. Mit seinem schmalen Mund fordert er mich auf etwas zu essen. Er deutet auf eine Schüssel, in der leicht verbrannten Ravioli dampfen. Seine Stimme ist zittrig, aber er gibt sich viel Mühe selbstbewusst zu wirken. Erst als er den Keller verlässt und mich auf dem Boden mit der Fertignahrung allein lässt, fällt mir auf, dass dies der Moment gewesen wäre sich zu wehren. Doch selbst als ich versuche die Schüssel zu mir zu ziehen, bleiben meine Gliedmaßen gelähmt.
Ich kann es kaum glauben, dass ich hinter meinem Entführer die Treppe hochsteige. Es ist ungefähr der fünfte Mittag seit meiner Entführung. Diese Tagesanzahl mache ich an meinen Schlafzeiten im Keller fest, weil ich hoffe, dass meine innere Uhr zumindest etwas Orientierung hat. Eigentlich sollte ich diese Abschätzung direkt über Bord werfen, als ich den Keller zum ersten Mal verlasse und den Mond in den Flur scheinen sehe, in den die Kellertreppe führt. Wegen den Schmerzen, die mich beim ersten Betreten des Hauses gefangen hielten, konnte ich die Umgebung nicht wahrnehmen. Doch jetzt ist es wie eine Reizüberflutung. Überall riecht es staubig und nach Holz. Der kratzige Teppichboden knarzt, während der Entführer weiter vorangeht. Es führen Seitentüren in altmodisch, aber ordentlich aussehende Räume. Vorbei an der verbrannt riechenden Küche führt er mich ins braun geflieste Badezimmer. Der Entführer ordnet an, dass ich meine Haare im limettengrünen Waschbecken waschen soll. Am Waschbeckenrand steht neben einem Seifenspender ein 3 in 1 Wasch-Gel. Der Mann, der mich seit Tagen gefangen hält, setzt sich nun auffordernd auf den Badewannenrand um mich genau zu kontrollieren. Nachdem ich das schrecklich herb riechende Wasch-Gel wieder ausgespült habe, öffnet der Entführer den Spiegelschrank um mir eine Make-Up-Tube zu zeigen, die viel zu dunkel für meinen Hautton ist. Er erklärt kurz, dass ich die blauen Flecken an Gesicht und Hals abdecken soll. Außerdem beginnt er grobmotorisch meine nassen Haare zu bürsten und zu föhnen. Er hat es offenbar eilig, da es nicht so scheint, als hätte er je lange Haare gekämmt, geschweige denn geföhnt. Mit halbnassen Haaren und schrecklich verblendetem Make-Up scheint der Entführer zufrieden zu sein und entscheidet, dass der kurze Bad-Stopp jetzt vorbei ist. Er zerrt mich zurück in den Flur und geradewegs zur Haustür.
Als ich auf der Rückbank des roten Gebrauchtwagens sitze, in dem es seltsam nach Katzenfutter riecht, frage ich mich, was der plötzliche Grund ist, mich aus dem Keller zu holen und weiter zu transportieren. Bis mir klar wird, dass die Polizei schon lange nach mir suchen muss und jetzt wohl auf eine richtige Fährte gekommen ist. Ich spüre die Hoffnung, wie sie mir neue Kraft gibt. Nicht nur, dass ich gesucht werde. Nein, die Autofahrt ist auch eine Chance, dass Menschen mich erkennen, die mich auf Vermisstenbildern gesehen haben und ich wieder lebendig nach Hause komme. Die Fahrt zieht sich bis ins Unendliche über Wälder und Feldwege. Irgendwann schiebt der Entführer sogar eine Kassette in den Bordrecorder ein. Jetzt beschallen verschiedenste Nena Hits meine Ohren. Ich merke, dass der Entführer, der vor mir auf dem Fahrersitz Platz genommen hat, sich immer mehr in Sicherheit wiegt und sogar anfängt die Lieder schräg und immer lauter mitzusingen. Als wir auf die Autobahn einfahren, werde ich richtig aufgeregt. Jetzt werden sie mich finden! Es sind einige andere Autos unterwegs. Als wir während einem Unfall im Stau stecken bleiben, nehme ich intensiven Blickkontakt mit allen Mitgliedern der vierköpfigen Familie im Auto neben mir auf, doch statt meinen hilfesuchenden Blick zu erkennen, versucht der der kleine Junge auf der Rückbank Schere, Stein, Papier mit mir zu spielen. Mein Entführer lacht laut auf, als er meine Versuche mir Hilfe zu holen bemerkt. Seine heitere Stimme erklärt mir, dass sie mich ohnehin nicht erkennen werden. Ich freue mich über seine Naivität und die damit geschenkten weiteren Versuche auf mich aufmerksam zu machen, doch beim zwölften Auto, dessen Insassen mir direkt ins Gesicht geblickt haben, verliere ich langsam den Glauben daran, dass je eine Vermissten-Anzeige aufgegeben worden ist.
Das Klacken der Blinkers zieht meine Aufmerksamkeit zurück zu meinem Entführer, der nach stundenlanger, für mich erfolgloser Fahrt, tatsächlich auf eine Raststätte einbiegt. Ich kann mein Glück kaum fassen. Bevor ich das Auto zusammen mit ihm verlassen darf, erklärt er mir meine Verhaltensregeln, um nicht verletzt oder getötet zu werden. Mir war natürlich auch vorher klar, dass ich bei ihm bleiben muss und mit niemand anderem sprechen darf. Trotzdem bin ich fest davon überzeugt, dass irgendwer mich erkennen muss. Ich stehe direkt neben meinem Entführer, als er an der McDonalds-Theke zwei Menüs bestellt. Ich versuche den Blick der jungen Frau zu erwischen, die uns bedient, doch sie lächelt nur freundlich zurück. Wir lassen uns mit zwei Tabletts an einem kleinen Tisch nieder. Ich verschlinge den Burger und die Pommes, als hätte ich die letzten Tage überhaupt nichts zu essen bekommen, was ja auch nahe der Realität ist, bei tagelang verbranntem Dosenessen, das entweder viel zu heiß oder zu kalt auf meinem Kellerboden platziert wurde. Ich stopfe immer noch meinen Mund voll, als mein Blick auf den kleinen Kiosk gegenüber des McDonalds fällt. Mir wird plötzlich alles klar. Es gab doch eine Vermissten-Anzeige! Mein Name prangt fett auf der Titelseite aller Zeitungen, doch mit dem Bild darunter wundert es mich nicht, dass mich niemand erkennt: Es ist das Instagram-Bild mit dem gesichtsverzerrenden Filter! Wer hat nur diese Bild ausgewählt? Das Bild hat keinerlei Ähnlichkeit mit meinem eigentlichen Spiegelbild, besonders nach den letzten Tagen. Ich höre das widerliche Schmatzen meines Entführers, als mir die Erkenntnis wie ein Brett vor den Kopf schlägt: Ich werde nicht gefunden und nie mehr hier rauskommen.
Diese Geschichte wurde inspiriert durch die wahre Geschichte von Rebecca Reusch.
Die 15-jährige Schülerin verbrachte den Abend bei ihrer Schwester. Am nächsten Morgen des 18. Februars 2019 wurde Rebecca vermisst. Zuletzt hatte ihre Schwester sie gesehen und eine Freundin soll eine Snapchat-Nachricht vor Unterrichtsbeginn erhalten haben. Anschließend wurde Rebecca nicht mehr gesichtet. Der Fall ist noch heute einer der bekanntesten deutschen Vermisstenfälle, doch er bleibt ungeklärt.
Es gab in der Ermittlung viele Kritikpunkte am Vorgehen der Polizei, wobei besonders die Wahl des Vermissten-Fotos in der Kritik stand, da es für viele kaum Ähnlichkeit mit dem tatsächlichen Aussehen Rebeccas zu tun hatte.

Vermissten-Foto:
Wie sie tatsächlich aussah:

Zu Snapchat-Filtern allgemein:
Nach Dr. Neelam Vashi von der Boston Universität gibt es ein neu aufkommendes Phänomen namens „Snapchat-Dysmorphie“. Dadurch sehen Menschen das durch Filter veränderte Gesicht als perfektes Ziel an. Patientinnen wollten sich in den letzten Jahren vermehrt operieren lassen und zeigten eines der gefilterten Bilder als Vorbild der Schönheits-OP. Die Tendenz zu einer solchen Dysmorphie wird immer höher, da ungefilterte Gesichter auf Instagram und Snapchat inzwischen eine Seltenheit geworden sind.